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[ << | Inhalt ]Ausgabe #131 vom 06.12.1998
Rubrik Feature

Weihnachtsgeister

"Um es gleich zu sagen: Marley war wirklich tot. Darüber konnte überhaupt kein Zweifel herrschen. Die Eintragung ins Sterberegister war vom Pfarrer unterzeichnet, dem Küster, dem Leichenbestatter und - dem Hauptleidtragenden. Scrooge hatte sie mitunterzeichnet, und Scrooges Name war auf der Börse für jede Sache gut, unter die er seine Unterschrift setzte.
Der alte Marley war so tot wie ein Türnagel."

So fängt sie an, Charles Dickens' berühmte Weihnachtsgeschichte und jedem, der sie dieses Jahr nicht selber lesen möchte und auch keinen findet, der sie ihm vorliest, dem sei gleich zu Anfang die 3CD Box der Deutschen Grammophon ans Herz gelegt auf der Hans-Jürgen Schatz mit wohlig schauriger Stimme die berühmten Geister herbeiruft. Ich selber habe leider keine Zeit dazu. Auch nicht, um mich von Manfred Steffen nochmal in die Kindheit zurückzaubern zu lassen, indem ich seine Versionen von "Weihnachten in Bullerbü" und "Guck mal, Madita, es schneit" (beides Deutsche Grammophon) in den Player lege. Ihr oder wenigstens eure (Paten-)Kinder, Nichten, Neffen (oder Geschwister?) solltet es aber auf keinen Fall verpassen.

Warum ich keine Zeit habe? Nun, ich wurde selber von drei Geistern heimgesucht. Der erste war der schlimmste:

Der Geist der kommerziellen Weihnacht

Klar, werdet ihr zu Recht einwenden, wer Geschäfte mit Weihnachten macht, handelt immer kommerziell und so verwerflich ist das nicht, aber es gibt eben doch Unterschiede, und was dieser Geist mitbrachte, würde dem Weihnachtsmann nicht gefallen: "Bravo Christmas Hot & Holy 3" (Warner Special Marketing). Nicht, daß ich was gegen Kopplungen habe, die einzig und allein für Menschen zwischen neun und dreizehn Jahren gemacht sind. Aber was die Herrschaften Oli P., Modern Talking, das Modul, DJ Bobo (um nur einige zu nennen) hier abliefern, macht einfach keinen Spaß. Billigst produzierte Massenware, die sich nicht mal schämt, im Booklet nicht etwa ein paar nette Zeilen zu schreiben, sondern den Platz gelassen für Werbung hernimmt. "Echt" singen 'Es gibt keinen Weihnachtsmann', das weiß doch jeder, aber wer will's schon hören?!? Diese Doppel-CD ist weder Hot noch Holy, das retten auch die Toten Hosen - Entschuldigung: Roten Rosen - nicht, die ja wenigstens für Hot stehen könnten. Deren Track ist natürlich von "Wir warten auf's Christkind" (JKP), dem Nachfolger von Campinos vorweggenommen Schlagerrevival "Never Mind The Hosen Here's..." Diesmal sind's halt keine Schlager sondern Weihnachtslieder, aber lustig ist das nicht. Auch diese "Bill Spector Produktion" (haha) wurde ganz eindeutig schnell hingeschustert und stinkt nach Geldmacherei.

Apropos Geldmacherei - Celine Dion hat zusätzlich zu ihrem aktuellen (französischsprachigen und damit natürlich hierzulande nicht so erfolgreichen) Album noch eine Weihnachtsplatte rausgebracht: "The$e Are $pecial Time$" (Columbia). Singt sie eigentlich auf der neuen Titanic? Und ist der Eisberg schon bestellt? Zurück zum Geist.

Auch für die über dreizehnjährigen gibt's natürlich Commercial X-Mas: "Rock Christmas Vol. 7" (Polystar) etwa besticht durch das gleiche (oder gar dasselbe) Coverartwork wie "Bravo...", greift allerdings größtenteils auf schon vorhandene Aufnahmen zurück (U2 "If God Will Send His Angels", Elton John "Cold As Christmas") und kann so ein gewisses Niveau halten. Außerdem ist endlich das gesuchte Duett von David Bowie und Bing Crosby "Little Drummer Boy" drauf. Immerhin!

"The Black Christmas Album '98" (Universal) ist Kitsch as Kitsch can. New York City, 5th Avenue am 23. Dezember, schwarze Musik, die so weiß ist, wie's nur irgend geht. Wer zu Weihnachten viel Leuchtreklame braucht, bekommt hier den Soundtrack.

Um zu retten was zu retten ist, reichte mir der Geist zu guter Letzt noch "Weihnachtsgala der Weltstars - für besinnliche Stunden" (Deutsche Grammophon): Andre Rieu geigt "Sleigh Ride", Bryan Terfel versucht "White Christmas" und Harald Juhnke hickst zwischendrin die Weihnachtsgeschichte. Diese "Weihnachts-CD zum Zuhören und Mitlesen" ist wenigstens schön aufgemacht (schaut aus wie ein Buch und alle Texte sind abgedruckt) und verzichtet auf Werbung. Trotzdem ist's mir jetzt nach irgendwas, was mir meine Seele streichelt und deshalb erwarte ich...

Den Geist der geruhsamen und gemütlichen Weihnacht

Nicht dumm, legt er mir erstmal altbekanntes auf: "Christmas Bells" (Back Biter). Gemäß des Mottos "günstig und trotzdem wirklich gut", zieht er die beste Compilation zum Thema "Amerikas Entertainer singen Weihnachtslieder" aus dem Gewand. Klanglich nochmal überarbeitet höre ich Bing Crosbys "White Christmas", Dean Martins "Winter Wonderland", Frankies "Have Yourself A Merry Little Christmas" und 15 weitere Perlen aus den 50er und 60er Jahren. Wem das nicht reicht, für den gibt's dann noch "A Hollywood Christmas" (Varese Saraband) mit gesammelten Werken aus Hollywood-Filmen von "Stowaway" ("That's What I Want For Christmas") über die Muppetsversion von "Scrooge" - das mußte wohl sein, Herr Geist - ("Christmas Children" & "One More Sleep") und beiden Teilen von "Home Alone" ("My Christmas Tree") bis "Toys" ("The Closing Of The Year").

Richtig eingelullt und vom Glühwein schon ein bißchen besäuselt, frage ich nach wirklich neuen Sachen, und auch da hat mein zweiter Besucher einiges zu bieten: Das George Shearing Quintet z.B. spielt sich in seinem angenehmen, wenn auch sehr gefälligen Sound (Shearings Klavier übernimmt zusammen mit Don Thompsons Vibraphon die Melodie) auf "Christmas" (Telarc) durch das komplette Repertoire der Weihnachtsklassiker. Erinnert mich ein bißchen an zwei ältere Jazzgeschichten, die beide auch schon richtig gut taten: Dave Brubeck und natürlich Oscar Peterson. Und genau dazu passend hat sich Joe Tarantino (Joe - nicht Quentin!) endlich die Arbeit gemacht und "Charlie Brown's Holiday Hits" (Fantasy) vom Vince Guaraldi Trio remastered. Schade, daß die meisten Aufnahmen immer noch mono sind. Auf alle Fälle sind diese - in der Neuauflage mit ausführlichen Linernotes versehenen - Songs die richtige Einstimmung auf die Peanuts-Folge am ersten Weihnachtsfeiertag.

Shawn Colvin kommt auf "Holiday Songs And Lullabies" (Columbia) natürlich eher folkig daher, aber auch oder vielleicht gerade deswegen paßt sie jetzt gut in meine Stimmung. So etwa muß es in musikalischen, amerikanischen Familien klingen, wenn Muttern den Kindern was vorsingt. Klar, daß die wenigsten dabei mit einer derart markanten und ausdrucksstarken Stimme, wie der von Frau Colvin, mithalten könne, aber das wissen wir ja schon länger.

Wenn in bayrischen Stuben Weihnachtsmusik gemacht wird, klingt das im besten Fall wie auf "Grüaß di Gott Christkindl" (Musikverlag Max Hieber). Hermann Well (Well? Den Namen hab ich doch schon mal irgendwo gehört...) hat ein Krippenspiel geschrieben, das von den Kindern der Familie Well (...das gibt's doch gar nicht, ich kenn den Namen...) gesprochen und gesungen wird und von den Biermösl Blosn (Hab ich's doch gewußt!!) musikalisch begleitet wird. Genau die richtige Scheibe, wenn man Weihnachten in irgendeiner einsamen Berghütte feiert oder gerne feiern würde.

Wer's sowieso gern folkig oder auch volksmusikalisch mag, dem sei noch "Global Christmas" (Polymedia) an's Herz gelegt. Bei den 16 Tracks ist zwar dreimal die USA und dreimal Louisiana (ich dachte immer, das gehört dazu) genannt, aber die Mischung bleibt trotzdem interessant. Was allerdings nicht weiter verwundert, gehören doch Namen wie The Bobs (unbedingt anhörenswert übrigens immer noch deren Weihnachtsalbum), The Klezmer Conservatory Band, Abbey Lincoln, Coco Robicheaux, Sissel und einige andere mehr zum Tracklisting.

Der Geist merkt, daß mir gefällt, was er so zu bieten hat, und, daß er seinen Vorgänger, der inzwischen vor der Glotze sitzt und den 327sten Werbeblock in sich hineinfrißt, längst ausgestochen hat, aber ein fast zu fröhliches "Merry Christmas, allerseits" reißt uns beide aus unsere Weihnachtssentimentalität.

Der Geist der Party Weihnacht

ist hereingekommen und macht da weiter, wo der zweite Geist aufgehört hat: bei Weltmusik. "Tropical Christmas" (Motor) mit Luis Frank Y Su Tradicional Habana, very special guest Sandra Granados hält, was der Titel verspricht: Salsa-, Merengue- und Cumba-Versionen von Songs wie "Last Christmas", "Sleigh Ride", "Winter Wonderland" oder auch "Leise rieselt der Schnee". Die Tanzfläche ist eröffnet! Gelassen kickt ein völlig ausgelassener Geist die letzten Geschenke weg und zieht sein erstes As aus dem Ärmel: "Christmas Caravan" (Mammoth) von den Squirrel Nut Zippers. Leider nur in den USA erschienen, ist das die logische Platte zum dort grassierenden Swing Revival und genau wie dieses macht "Christmas Caravan" tierisch Spaß. (Wenn ihr mehr braucht, vergeßt nicht Roomful Of Blues "Roomful Of Christmas" vom letzten Jahr aus dem Schrank zu ziehen.) Die Weihnachtsparty ist also in vollem Gange, drei Geister und alle Gäste tanzen, trinken und feiern was das Zeug hält und drei Wiederveröffentlichungen erhalten uns die Stimmung bis in die frühen Morgenstunden:

  • "20 Christmas Classics" (Motown): Diana Ross, Stevie Wonder, Michael Jackson und andere Motown-Stars mit "Rudolph The Red-Nosed Reindeer", "I Saw Mommy Kissing Santa Claus" usw. Manchmal ein bißchen schwülstig (Motown eben) aber auch nach all den Jahren immer noch funky.
  • The Beach Boys "Ultimate Christmas" (Capitol) vereint das orginale Weihnachtsalbum von 1964 mit all den anderen X-Mas-Klassikern, die die Beach Boys je eingespielt haben. Dazu noch die "Dennis Wilson Christmas Message" und das "Brian Wilson Christmas Interview"!! That's real surfin' Christmas fun, fun, fun.
  • Und zu guter Letzt die Scheibe, auf die texanische Weihnachtsmänner schon lange warten: "An Austin Rhythm And Blues Christmas" (Legacy). 1983 erstmals erschienen und dann ganz schnell vergriffen, lassen die Fabulous Thunderbirds, Charlie Sexton, Lou Ann Barton, Angela Strehli mit Songs wie "Boogie Woogie Santa Claus" und "Rockin' Around The Christmas Tree" die Sau raus.
Schon fast an Sylvester denkend bringt mich der Geist dann auch noch herzhaft zum Lachen: Spike Jones "X-Mas" (Verve) versammelt mit Spikes' ureigenem Witz sämtliche Aufnahmen die der Musikanarcho in den 40ern und 50ern eingespielt hat.

Bei Charles Dickens kommt zum Schluß die Moral vom Teilen mit Bedürftigen und so; der Schallplattenweihnachtsmann wünscht euch einfach ein ruhiges Fest und ein paar schöne Geschenke.

Merry X-Mas

PS: Checkt doch auch nochmal die Weihnachtstips von 1996 und 1997 (siehe Links). [pb]


Verweise auf diesen Artikel aus späteren Ausgaben:


Permalink: http://schallplattenmann.de/a103133


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