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[ << | Inhalt ]Ausgabe #461 vom 07.11.2005
Rubrik Feature

Native Lands - Interview mit Will Calhoun (Living Colour)

Der Schlagzeuger auf Zeitreise. Zurück aus Zukunft und Vergangenheit brodelt es nun auf seinem neuen Album.

Er sieht aus wie ein Schamane, der im Science-Fiction-Film Matrix neben Morpheus das digitale Böse bekämpft haben könnte. So zeigt ihn jedenfalls das Cover seines neuen Solo-Albums "Native Lands". Doch Will Calhoun ist kein zweiter Laurence Fishburne, er ist Schlagzeuger der weltberühmten Afro-amerikanischen Heavy-Metal-Legende Living Colour. Und nicht nur das: Er spielt auf Alben von Mick Jagger, Paul Simon, Lou Reed, Wayne Shorter, Marcus Miller und Public Enemy. Und die gedankliche Matrix, auf die er seine stilistische Vielfalt auf "Native Lands" spannt, die klingt wahrlich faszinierend.

Volker Wilde [vw]: Auf deinem aktuellen Soloalbum "Native Lands" hören wir von Free zu Hardbop, Industrial über Funk bis hin zu Weltmusik einen weiten Stilreigen. Mit dabei sind so unterschiedliche Musiker wie Stanley Jordan, Marcus Miller, Pharoah Sanders, Nana Vasconcelos, dein Computer und dein zweijähriger Sohn. Suchst du was?
Will Calhoun: Ich denke ja. Sieh mal, vor mehr als 100.000 Jahren brachen Stämme der Homo Sapiens auf und verbreiteten sich über die ganze Erde. Neben ihrer Hautfarbe bildeten sich auch ihre musikalischen Stile regional aus. Alle aber gehen zurück auf die eine Quelle in Afrika.

[vw]: Das ist also deine Suche?
Will Calhoun: Nur ein Aspkekt. Es geht mir eigentlich um noch mehr: Den Sound des Universums.

[vw]: Bleiben wir kurz auf Mutter Erde. Du musst bei der Beschäftigung mit all den Stilarten oft wie ein Musikwissenschaftler vorgehen, oder? Immerhin spielst du auf dem Album die nigerianischen Udu-Trommeln, die Tonkrüge mit zwei Öffnungen, die arabische Rahmentrommel Pandeiro, programmierst Loops und bedienst dein Drumset.
Will Calhoun: Bevor wir ins Studio gingen, da habe ich mich schon allein hingesetzt und bin analytisch an verschiedene Stilarten ran, um sie mir zu eröffnen. Dabei ist, das mag dich überraschen, für mich der Sound entscheidend, nicht so sehr ein Groove oder Tempo. Der Sound ist der Schlüssel. Und vielleicht ist das der Grund, warum ich die vielen Stile und grundverschiedenen Musiker auf "Native Lands" als einen Sound empfinde. Nämlich ein Sound, der innerhalb und außerhalb der Grenzen der Musikindustrie angesiedelt ist.

[vw]: Du spielst sogar Gitarre auf "Native Lands". "She" ist ein kleines süßes Stück Musik. Welche Geschichte steckt dahinter?
Will Calhoun: Das kleine Stück entstand in meinem angemieteten Appartment in Brasilien, genauer in São Paulo. Ich besuchte ein befreundetes Ehepaar und sie gaben eine Party. Nach dem Essen reichten sie eine Gitarre herum. Einer nach dem anderen sollte ein kleines Stück spielen. Ich war der einzige professionelle Musiker auf der Party, wie sich herausstellte. Aber jeder einzelne spielte fantastische Musik und sang dazu. Ich hörte verschiedenste Stile. Umwerfend! Ich war peinlich berührt, als die Reihe an mich kam. Ich hatte im Unterschied zu allen anderen hier, nicht viel zu spielen oder zu singen. Nun ja, diese Erfahrung brachte mich dazu, am folgenden Tag eine Gitarre zu kaufen und ich begann einige Ideen auf ihr umzusetzen. "She" war mein erstes eigenes Stück auf einer Gitarre. Ich nahm es sofort auf, spielte mit einer Pandeiro dazu. Der Song erinnert mich an die weibliche Energie.

[vw]: Mit den Stücken "Afro Blue" und "Nefertiti" outest du dich als ein Typ, der die Jazzphilosophie eines Miles Davis und John Coltrane weiterträgt. Ist es falsch, wenn ich sage, dass der Jazz längst nicht mehr relevant ist in unseren Tagen. Musik zur Kontemplation, okay, aber nicht mehr richtungsweisend, nicht mehr tauglich für Idole?
Will Calhoun: Du hast recht. Ich denke, die Industrie hat den Jazz zersetzt. Viele Labels, Clubs, Magazine definieren an einer Musik herum, die man einfach nicht definieren kann. Jazz ist Ausdruck von Gefühlen. Jazz ist nicht dazu gedacht, dass man ein Label draufklebt und ihn ins Regal stellt. Wenn eine Kunstform wie Jazz von Organisationen vermarktet wird, die die Kunst selbst nicht hervorbringen, so wird sie ausgebeutet und zerrissen.

[vw]: Siehst du eine Lösung?
Will Calhoun: Guck mal, viele der Hiphop-Künstler kreieren und kontrollieren ihre Musik. Sie sind sich ihrer Zielgruppe nur zu bewusst, die nämlich als Fans und Käufer dastehen. Sie drücken sich aus, während sie eine tiefe Verbundenheit mit ihren Leuten schaffen. Sie haben keinerlei Interesse, dieses Verhältnis wieder zu verlieren. Und jetzt frage ich dich: Was am Jazz könnte junge Leute anziehen? Die Clubs etwa? Oder der Sound? Die Angebote im CD-Laden? Der Jazz, der im Radio läuft? Die Klamotten, die Jazzer anhaben? Jede einzelne ist eine entscheidende Frage, wenn der Jazz überleben will.

[vw]: Hast du jemals, daran gedacht, was aus dir geworden wäre, wenn du mit Living Colour Ende der 1980er Jahre nicht den Welterfolg gehabt hättest? Kommt dir da eine ungelebte Alternative in den Kopf?
Will Calhoun: Überhaupt nicht. Ich nehme das Leben, wie es kommt. Klar, wenn Living Colour nicht groß geworden wären, wären andere Dinge passiert, nicht weniger gut, nur anders. Ich habe nie den Welterfolg angestrebt, einfach mein Bestes gegeben.

[vw]: Du warst im Oktober auf Deutschland-Tour mit deiner eigenen Band AZA. Im Dezember geht es in den USA mit Living Colour live weiter. Was hält dich in dieser Band?
Will Calhoun: Ich liebe die Musik, die wir als Living Colour machen! Wenn ich jetzt von spirituell rede, dann meine ich eine echte Verbindung unter uns. Diese Band ist solange relevant in dieser Welt, solange wir es immer wieder schaffen, die Musik aufrichtig zu halten. Wir spielen das, was abgeht und bleiben echt.

[vw]: Will, danke für das Gespräch. [vw]


Verweise auf diesen Artikel aus späteren Ausgaben:


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