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[ << | Inhalt ]Ausgabe #472 vom 13.02.2006
Rubrik Feature

Interview mit Ketil Bjørnstad

Volker Wilde [vw]: Was spielen Sie am Flügel, wenn Sie abends allein zuhause sind?
Ketil Bjørnstad: (lacht) Ich bin jedesmal überrascht, wenn das passiert! Momentan haben es mir die Intermezzi von Brahms und die späten Schubert-Sonaten angetan. Manchmal sitze ich aber auch einfach nur so am Klavier und improvisiere mit kleinen Melodien.

vw: Eben Ihre kleinen Melodien sind es, die Ihre Hörer immer wieder in der Seele treffen und zu Tränen rühren. Auch auf Ihrem neuen Album "Floating" hören wir diese simplen Melodien, die Sie im Trio melodiös ausloten. Hass oder Depression aber fehlen in Ihren Kompositionen völlig.
Ketil Bjørnstad: Ich widerspreche nicht. In der Tat, meine Musik ist prall angefüllt mit Trauer und Schmerz. Gleichzeitig hoffe ich, dass die positive Energie darin überwiegt, mein Mitgefühl.

vw: Sie spielen in ständig wechselnden Besetzungen. Wie kommt es, dass Sie zu "Floating" den Bassisten Palle Danielsson und die Percussionistin Marilyn Mazur ausgewählt haben?
Ketil Bjørnstad: Pure Bewunderung war es. Ich kenne Palles Bass-Spiel noch aus seiner Zeit bei Bill Evans und liebe seine Zusammenarbeit mit Keith Jarrett. Er bringt seinen Kontrabass nahezu zum Singen. Daher ist er auf diesem Instrument meine erste Wahl. Marilyn bewundere ich seit Ihrer Kollaboration mit Jan Garbarek. Mit ihrer Percussion zwängt sie die Musik niemals in ein Korsett, sie schafft weite Soundlandschaften. Für mich ist auch wichtig, dass sie eine kosmopolitische Musikerin ist. Beispielsweise verwendet sie diese kleinen asiatische Glöckchen enorm effektvoll.

vw: Sie geben gerne Bach, Ravel, Prokofiev, Stravinskij, Miles Davis, Thelonius Monk und nordische Folklore als ihre größten Einflüsse an. Darf ich behaupten, dass ihr Trio auf "Floating" klingt wie ein norwegischer Mozart, der Miles Davis' Cool-Jazz gehört hat?
Ketil Bjørnstad: (lacht) Absolut, wir klingen nicht wie ein klassisches Jazztrio! Daran hat Marilyn ihren Anteil, weil sie das ganze Spectrum der World-Sounds zu bieten hat; Palle ist an sich Violinist, geht also weit über den typischen Bereich eines Jazzbassisten hinaus. Aber auch ich spiele nicht wie ein Jazzpianist, sondern wie ein Musiker, der die Formen der klassischen Musik beherrscht und einbezieht. Entscheidend: Die Melodien sind uns allen dreien zentral. Wir benutzen die Kompositionen nicht als Entschuldigung für ausladende Improvisationen, wir halten die komponierten und die improvisierten Anteile in Balance.

vw: Unter den 16 zwischen zwei- und siebenminütigen Kompositionen hat mich "The Woman On The Pier" am meisten berührt.
Ketil Bjørnstad: Dieses Stück ist inspiriert vom norwegischen Dichter Sigbjörn Obstfelder, ein Zeitgenosse Edvard Munchs. Im Gedicht geht es um die Silhouette einer Person aus der Distanz gesehen, die Geheimnisse und Mysterien, die wir dabei im Kopf haben. Ich habe versucht, die Melodie wie eine Welle aufzubauen.

vw: Werfen wir einen Blick zurück ins Jahr 2001. Ihr Live-Album "Grace" erschien. Sie haben hier Kompositionen zu Texten des englischen Barockdichters John Donne entworfen. Anneli Drecker singt sie so eindringlich, dass viele Freunde berichten, sie hätten Rotz und Wasser geheult.
Ketil Bjørnstad: Das höre ich gern, denn "Grace" war und ist wichtig für mich. Noch heute trete ich mit diesen Songs im Duo mit Anneli auf. Sie ist das hinreißendste Instrument, das sich ein Komponist nur wünschen kann. "Grace" kann ich nicht kopieren, aber – wie mit "Floating" – weiter auf die Suche nach neuen Soundlandschaften gehen und hoffen, dass die Melodien Sinn machen für den Hörer.

vw: Die Geschichte kursiert, dass Sie 1969 gerade 16-jähriger Klaviersolist des Osloer Philharmonischen Orchesters waren, als Sie "In A Silent Way" von Miles Davis hörten. Schlagartig sollen Sie sich von der Klassik ab- und dem Jazz zugewendet haben. Was passierte 1969 wirklich?
Ketil Bjørnstad: Es war ein Schock. "In A Silent Way" war so verstörend schön, das Album hat mich total verwirrt. Ich sehnte mich unmittelbar danach, spielen zu können wie es Joe Zawinul auf diesem Album macht, frei über die Akkorde. Und in diesem Moment war ich kein klasssicher Pianist mehr. Ich entschied mich zur Zusammenarbeit mit Jazzern wie Arild Andersen und Jon Christensen, die mich die Verspieltheit der Musik lehrten, was ich völlig vergessen hatte. Denn als klassischer Pianist bist du zu allererst diszipliniert. Ich habe die klassische Musik seither nicht verdrängt, gleichzeitig meinen Richtungswechsel im Jahr 1969 nie bereut.

vw: Aktuell können wir Sie mit Ihrem Trio auf Deutschlandtournee erleben. Folgt dann ein neuer Richtungswechsel?
Ketil Bjørnstad: Kein so entscheidender wie 1969! (lacht) Ich gebe erstmal meine Konzerte mit dem Trio. Dann bin ich mit Anneli Drecker auf der Bühne und mit meinem Landsmann und Gitarristen Terje Rypdal. Vielleicht nehmen Terje und ich demnächst ein Duo-Album auf, aber das sind vage Pläne. Ich muss mich erstmal hinsetzen und in Ruhe über meine Zukunft nachsinnen. Vielleicht werde ich mit Musikern aus fernen Ländern spielen, danach sehne ich mich sehr.

vw: Vielen Dank für das Gespräch. [vw]


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